Zeit zum Essen
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Zeit zum Essen
Ich möchte noch einmal über Essen sprechen. Nicht über Eiweißshakes, nicht über Kohlenhydrate nach Mondphase und schon gar nicht über die spirituelle Bedeutung von drei Mandeln nach 18 Uhr. Sondern über echtes Essen. Über das, was Menschen seit Jahrtausenden verbindet – und was wir heute gerne irgendwo zwischen E-Mails, Staus und Digitalstress verlieren.
Neulich las ich in einer Zeitschrift, dass Südeuropäer im Schnitt älter werden als Nordeuropäer.
Die Expertenliste war lang und so bunt wie ein Gemüsemarkt:
Der eine schwört auf Olivenöl („flüssiges Gold, am besten intravenös!“),
der nächste verteidigt Rotwein als krebsheilenden Zaubertrank,
ein anderer preist das regionale Gemüse als bunte Wunderwaffe an.
Ja, sicher – gute Lebensmittel sind wichtig. Sehr sogar.
Aber ein entscheidender Punkt fehlt in all diesen Betrachtungen wie Salz im Nudelwasser:
Es geht nicht nur darum, was wir essen.
Es geht darum, wie wir essen.
Viele Mahlzeiten heute finden statt wie geheime Operationen. Zwischen Tür und Angel, ohne Zeugen und noch seltener mit Genuss.
Heute Morgen kam ich in die Küche und sah meine Tochter dort stehen – halb wach, halb im Handy, dazu ein Brot, das verzweifelt versuchte, Teil ihrer Aufmerksamkeit zu werden.
Von Freunden weiß ich, dass manche gar nicht frühstücken oder es tun, während sie im Auto sitzen und hoffen, nicht gerade beim Linksabbiegen die Hälfte zu verlieren.
Mittagessen?
Am Schreibtisch natürlich – da kann man so herrlich gleichzeitig telefonieren, Mails beantworten und drei unnötige Online-Shop-Tabs offen halten.
Und das Abendessen?
Ein logistischer Albtraum des modernen Familienlebens.
Die Kinder müssen zum Sport, zur Musik, zu Freundinnen, der Vater noch schnell zum Fußball, die Mutter zu Yoga, Pilates oder zum Kurs „Mehr Gelassenheit im Alltag“ (den ironischerweise niemand gelassen besuchen kann).
Gemeinsames Essen?
Eine nette Idee. Wie Einhörner. Oder pünktliche Handwerker.
Stattdessen steht ein Topf in der Küche, jeder nimmt sich irgendwann irgendwas, und spätestens da stirbt ein Stück Esskultur leise auf dem Laminat.
Dazu kommt die neue Religion: Ernährungstrends.
Apps, die einem vorschreiben, was man wann essen soll, wie viel, in welcher Reihenfolge, in welcher Farbe und vermutlich bald in welcher emotionalen Verfassung.
Ich habe mir so eine App aus purer Neugier eingerichtet.
Die Folge: so viel Stress, dass ich gar keinen Hunger mehr hatte.
Sie flog vom Handy, als ich die Urlaubsfotos aus Italien ansah:
Sonne, Pasta, Wein, Lachen – Dolce Vita.
Vielleicht, dachte ich in diesem Moment, ist das der eigentliche Grund, warum Südeuropäer älter werden als wir Nordlichter:
Sie nehmen sich Zeit zum Essen.
Nicht die Pasta macht gesund.
Nicht die Pizza.
Nicht der Rotwein.
Es ist die Art, wie man isst:
zusammen, lachend, sprechend, atmend, lebend.
Ganz ehrlich: Wer glaubt, tägliche Pasta sei per se gesund, irrt gewaltig.
Aber die Zeit, die man sich dabei lässt – das ist Medizin.
Die Gespräche. Das Zuhören. Das Anstoßen.
Das Gefühl, für einen Moment nicht gehetzt, sondern angekommen zu sein.
Hört auf, euch von Tabellen, Programmen und Apps diktieren zu lassen, was euer Körper braucht.
Kocht selbst.
Esst gemeinsam.
Nehmt euch Zeit.
Ich bin mir sicher: Diese Rezeptur ist gesünder als jedes terminoptimierte Ernährungsprogramm mit Vitamin-B-Komplex und Omega-3-Kapseln, die aussehen wie kleine Goldfische in einer Plastikdose.
Vielleicht schmeckt deshalb auch im Urlaub alles besser.
Weil wir dort endlich tun, was unser Körper schon immer wollte:
Essen. Genießen. Leben.
Ich wünsche euch:
Zeit zum Essen.
Euer
Andreas Vick