Die Wildschweinbratwurst vom Bensheimer Weihnachtsmarkt – eine kleine Geschichte saftiger Konsequenz
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Es gibt kulinarische Fixsterne, bei denen man nicht mehr genau sagen kann, wann sie begonnen haben zu leuchten.
Für mich gehört dazu die Wildschweinbratwurst vom Bensheimer Weihnachtsmarkt, serviert am Stand von Eric Bulling, dem Mann, der das Kirschberghäuschen führt und offenbar auch die Fähigkeit besitzt, Besucher mit einer einzigen Bratwurst in nostalgische Paralleluniversen zu schicken.
Ich kenne diese Bratwurst so lange, dass ich sie wahrscheinlich schon gegessen habe, bevor ich wusste, dass Eric der Wirt vom Kirschberghäuschen ist.
Sie gehört hierher, so sehr wie ich selbst – und das meine ich wörtlich:
Ich bin hier geboren, ich habe hier meine Gesellenprüfung im Metzgerhandwerk abgelegt, und ich wohne mitten in der Bensheimer Altstadt.
Wenn jemand also behaupten darf, er kenne die lokalen Bräuche, dann bitte ich höflich darum, meine Bratwurst-Jahresstatistik anzuerkennen.
Trotzdem – und das ist das Köstliche daran – weiß ich bis heute nicht, wer diese Wildschweinbratwurst eigentlich produziert.
Ich bin Metzgermeister.
Vom Fach.
Mit Werkzeug, Wissen und einem sehr klaren Verständnis von Fleisch.
Und doch: keine Ahnung.
Null.
Nada.
Aber ehrlich?
Mir gefällt dieser Zustand kultivierter Unwissenheit.
Eine Bratwurst mit Herkunftsschweigen – das ist fast schon literarisch.
Der Stand auf dem Weihnachtsmarkt ist so zuverlässig, dass man meinen könnte, er sei fest im Bausatz der Altstadt enthalten.
Er steht jedes Jahr an derselben Stelle: am Brunnen auf dem Bensheimer Marktplatz, direkt unterhalb der Kirche St. Georg – also genau dort, wo die Stadt ihre kulinarische Ehrlichkeit ausstellt.
Und sobald man nähertreten will, mischt die Luft eine dieser typischen Dezemberkompositionen: ein bisschen Rauch, ein bisschen Winter, ein bisschen „Komm her, hier gibt’s was Warmes“.
Dann kommt der Moment, wegen dem alle da sind:
Die Wildschweinbratwurst.
Knusprig gebraten, nicht halbherzig, sondern mit der Art Handwerkstreue, die nur entsteht, wenn jemand lange genug am Grill steht, um zu wissen, dass Timing wichtiger ist als Optik.
Goldbraune Kruste, saftiges Inneres, würzige, aber niemals aufdringliche Wildnote.
Dazu ein Sauerkraut, das heiß und aromatisch ist – nicht matschig, nicht beleidigt, sondern so, wie Sauerkraut sein sollte: selbstbewusst, aber nicht laut.
Und dann das Brötchen.
Viele Stände servieren Brötchen als „notwendiges Übel“, gerne in der Textur von mehrfach aufgewärmtem Waschschwamm.
Nicht hier.
Eric Bulling grillt jedes Brötchen extra an.
Es knuspert außen, gibt innen nach – ein Brot, das seinen Job verstanden hat.
Im Zusammenspiel ergibt das einen Biss mit drei klaren Stimmen:
Knusper – Saft – Würze.
Ein Dreiklang, der wirkt wie ein Essensgedicht in Strophenform.
Und jetzt kommt der Vorteil (oder Nachteil, je nach Taille), in der Bensheimer Altstadt direkt zu wohnen:
Vier Wochen lang, solange der Weihnachtsmarkt geöffnet ist, ersetzt diese Bratwurst regelmäßig mein Abendessen.
Einmal die Woche?
Süß.
Zweimal?
Realistischer.
Dreimal?
Ein solides Adventsverhalten.
Es ist nicht bloß Essen.
Es ist Gewohnheit.
Tradition.
Ein lokales Ritual, das sich weigert, modernisiert zu werden – und genau deshalb so gut funktioniert.
Diese Wildschweinbratwurst ist kein Feinschmeckergericht.
Keine Haute Cuisine.
Nichts für Food-Fotografen, die ihr Essen im 45°-Winkel mit Meersalz bestäuben.
Sie ist etwas Besseres:
Ein handfestes, ehrliches Stück Bensheim, das seit Jahren genau weiß, wie man schmeckt.
So glücklich i(s)st man.